Zur Premiere von »Jagger Jagger«, am 1.11.2020 im Maschinenhaus Essen
Wer ist eigentlich zivilisiert und wer nicht? Sind es jene, die bestimmen, was sich gehört und was nicht? Wer dazu gehört und wer nicht? Und warum nehmen die sog. Zivilisierten an denen Anstoß, die sich wehren gegen die Missachtung, die ihnen täglich entgegenschlägt? »Entschuldige Dich!«, sagt Bengts Mutter zu Bengt und zeigt damit, dass sie nicht verstanden hat, wie es ihrem Sohn geht. »Alles ist schrecklich geworden, seit Du diesen „Hund“ kennengelernt hast«, sagt Bengts Mutter. Aber Bengt antwortet: »Schrecklich war es vorher!« Und wieder versteht die Mutter nicht, was ihr Sohn meint. Vor lauter Angst, ihr Sohn könnte »abrutschen« in die sog. »Unterschicht«, in »schlechte Gesellschaft« geraten, ist sie blind für die Probleme, die Bengt eigentlich quälen: Die Hänseleien der anderen Kinder der »guten Leute«, die nur darum »auf der richtigen Seite stehen«, weil sie in der Mehrheit sind. Die Grausamkeit der Mehrheit, die weiß, was sich gehört, besteht darin, dass sie es z.B. unterlässt, für Gerechtigkeit zu sorgen, sich vielmehr ihre (Schein)moral dadurch beweist, nach unten zu treten.
Diese Moral trägt Pastell, ist dezent und fällt nicht auf. Immerhin weniger als große fleischfarbene Ratten oder stinkende Riesenerbsen. Sie hält zusammen, denn so ist sie sicher gegen die Angriffe, die sie selber (gut versteckt und einvernehmlich) verübt. Die, die aus Notwehr beißen, fallen dagegen auf. Dadurch, dass sie stinken und alleine stehen. Um dennoch sicher zu sein, tun auch sie sich zusammen – und das steigert die Angst derer, die immer noch in der Mehrheit sind. – Doch wie ließe sich dieses Gegeneinander überwinden?
Dadurch, dass man »die Fiesen bestraft«, wie Jagger es vorschlägt? Ist das wirklich DIE Methode der Wahl? Und wer soll entscheiden, wer fies ist und wer nicht, wenn es die Mehrheit scheinbar nicht ist? Das Recht, würde die Antwort in einem Rechtsstaat lauten. Aber was passiert unterhalb der Sichtbarkeitsgrenze? Dort, wo das Rechtsstaatprinzip nicht greift, weil diejenigen, die Unrecht erleiden noch zu jung sind, oder zu »unwichtig«, scheinbar »unrelevant« oder schlicht »in der Minderheit«? Zum Beispiel auf der Straße? Oder auf dem Schulhof? Oder in sog. »parallelen Communities« leben? Dort, wo, weil das »Recht« versagt, das Prinzip von direkter Rache, von »Auge um Auge, Zahn um Zahn« bzw. wie im Stück »Cornflakes um Ratte, Ball um Fahrradklingel« herrscht?
Jede/r, der schon einmal mit Mobbing oder Diskriminierung in Berührung gekommen ist, wird sich über solche Fragen aus ganz persönlichem Antrieb Gedanken gemacht haben. Vielleicht schon in der Kindheit. – Hoffentlich mit dem Ergebnis, dass es nicht um Rache gehen kann, sondern um Gerechtigkeit gehen muss. Auf allen gesellschaftlichen Ebenen und immer wieder. Und darum, einzugreifen, wenn Unrecht geschieht. Dass es darum geht, nicht wegzusehen und sich in den eigenen vier pastellfarbenen Wänden einzubunkern, sondern aufzustehen und zu sagen: Ich habe gesehen, was passiert ist, das geht nicht, ich stehe zu Dir. Das ist schwer und manchmal vielleicht zu viel verlangt. Aber Scheinmoral ist auch keine Alternative.
Viola Köster ist Dramaturgin, Regisseurin und Autorin. Sie studierte zunächst Politikwissenschaften, bevor sie ein Dramaturgiestudium anschloss. Sie arbeitete als Dramaturgieassistentin bei den Schillertagen am Theater Mannheim, kuratierte im Team die Autorenlounge beim Kaltstartfestival Hamburg und war Dramaturgin und Autorin beim New Hamburg Festival vom Deutschen Schauspielhaus Hamburg. In einer Fortbildung im Devised Physical Theatre nach Lecoq-Methode sowie während der Sommerakademie der Maskentheatergruppe FAMILIE FLÖZ setzte sie sich außerdem auch praktisch mit Schauspiel und Maskenspiel auseinander. Als Dramaturgin war sie am Deutschen Theater Göttingen engagiert, wo sie unter anderem das Diskursformat WORTWECHSEL entwickelte und ihre eigenen Texte inszenierte. In Eigenregie entstanden die Performance VISION ZERSTÖRUNG, die in der Vierten Welt Berlin gezeigt und während einer Residenz am Maschinenhaus Essen weiterentwickelt wurde sowie die Soloperformance IM LOOP, die in der Vierten Welt Berlin zu sehen war. Seit der Spielzeit 2019/20 ist Viola Dramaturgin am Schlosstheater Moers, wo als letztes auch ihre Szenische Lesung OH DU DEUTSCHER WALD entstand.